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Brückstraße - Wandel einer Geschäftsstraße

sonstiger Name: Die Geschäftsstraße im 20. Jahrhundert
Stichworte: Straße
1930 bis 2023

Vorbemerkung

„So schön war die Brückstraße“ – diese Überschrift eines Zeitungsberichtes spiegelt in der Erinnerung das Lebensgefühl einer Gruppe ehemaliger  Brückstraßenbewohnerinnen und -bewohner.1
„So lebendig war die Brückstraße“ –  könnte man bezogen auf das ehemalige Geschäftsleben ergänzen.

Die Brückstraße steht exemplarisch für andere Straßengemeinschaften in Erkelenz. Doch was ist oder war für die Wahrnehmung der Anwohnerinnen und Anwohner so charakteristisch, dass sie im Rückblick ihren Alltag, das Leben und Arbeiten in diesem Lebensumfeld der Brückstraße wohlmeinend erinnern? Wiederaufbau, alten Bestand retten und neue geschäftliche Ideen umsetzen, Konsolidierung des Lebens – das sind nur einige Gesichtspunkte, die das Agieren der Menschen in den 1950er Jahren kennzeichnen. In einer solch massiven Umbruchs- und Neuanfangsstimmung gaben vielleicht gerade tradierte Strukturen und das bekannte Nachbarschaftsgefüge Halt und auch Zutrauen, große Aufgaben meistern zu können.

Ende der 1950er Jahre – ein Gedankenspaziergang

Die Straßenführung der Brückstraße ist seit Jahrhunderten unverändert. Vom Markt aus führt sie in gerade Flucht heute auf die Nordpromenade zu. Ihren schnurgeraden Charakter hält sie weiter bis nach Oestrich bei; eine Besonderheit stellt das kleine dreieckige Plätzchen auf der linken Seite in Marktnähe dar. Den Namen Brückstraße trug sie ursprünglich bis zur Einmündung der Ziegelgasse.2 Bis Ende der 1970er Jahre war die heute überwiegend gepflasterte Brückstraße stadtauswärts und –einwärts befahrbar. Heute gilt eine Einbahnstraßenregelung von der Nordpromenade kommend stadteinwärts.

Der Name der Straße ist seit 1445 als „Bruckstraten“ belegt.3 Die Brückstraße zählt somit zu den ältesten Straßen von Erkelenz und hatte, da sie im Mittelalter auf eines der vier Stadttore zuführte, von Beginn an eine zentrale Bedeutung als Geschäftsstraße. Der Charakter einer Geschäftsstraße war noch lange erhalten. So kannte die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wie das Jahrhundert zuvor eine Handwerks- und Geschäftsspezialisierung und Angebotsdichte, die aus der heutigen Erfahrung der Einkaufsmärkte und Kaufzentren, in denen „alles unter einem Dach“ offeriert wird, verwundert und gleichzeitig fasziniert. Zwar waren nach dem Krieg noch nicht alle Baulücken geschlossen, doch ein – wenn auch nicht ganz vollständiger – Weg in Gedanken Ende der 1950er Jahre über die Brückstraße vom Markt bis zur Nordpromenade und zurück belegt genau diese Geschäftsvielfalt, weckt gleichzeitig persönliche Erinnerungen und verdichtet sich zu einem  Stimmungsbild der späten 50er Jahre.

Geschäftsvielfalt

Von Drogerie und Reformhaus Siekmeyer vorbei am Eisenwarengeschäft Carl Lange und dem Laden für Frischmilch und Käse. Dort warb man mit dem Slogan: „Mensch sei helle, Milch ist die Gesundheitsquelle – von Frau Elise Clahsen.“ Frische Milch, die in die eigene, mitgebrachte Milchkanne eingefüllt und verkauft wurde! Heutzutage würde mit dem Hinweis „unverpackt“  dafür geworben.

Gleich daneben war das Porzellanhaus Baets (später Baetz), dessen lange Tradition an den Geschäftsnamen Ingenhütt, Rütter, Baets sichtbar wird, angesiedelt.

Unmittelbar benachbart lag die Kolonialwarenhandlung Friedrich Bleidt. Die beiden Häuser waren durch einen gemeinsam zu nutzenden Torbogeneingang erreichbar. Dieser Torbogen zwischen den beiden Häusern Nr. 6 und Nr. 8 besteht nach wie vor. Friedrich Bleidt verstarb 1950, bis 1961 führte seine Ehefrau das Geschäft fort.

© Stadtarchiv Erkelenz | Haus Bleidt vor dem 2. Weltkrieg
Haus Bleidt vor dem 2. Weltkrieg

Nur wenige Schritte weiter praktizierte die Kinderärztin Dr. Maria Gartz. Als Metzgerei und Fleischerei lag angrenzend im ehemaligen „Gerkrath´schen Haus“ das Geschäft von Herbert de Bache. Über der Metzgerei wohnte Fräulein Maria Neidhöfer aus der ehemaligen Hausbesitzerfamilie. In diesem Haus war Generationen zuvor zeitweise das Friedensgericht (inklusive einer Arrestzelle für schwere Fälle) untergebracht.  Auf der gleichen Straßenseite wohnte nur wenige Häuser weiter in Richtung Nordpromenade Familie Terhorst, die vom Pangel her zugängig u. a. mit Kartoffeln und Getreide handelte.

Genau an dieser Stelle des gedanklichen Weges durch die Brückstraße lohnt es, sich die auf dem Weg bereits wahrgenommenen Gerüche vorzustellen: Milch und Käse, frisch Geschlachtetes, Kartoffeln und gemahlenes Korn – diese kontrastreiche Geruchsmischung wurde von der gegenüberliegenden Straßenseite her durch den Duft von Brot und Kuchen aus der Bäckerei Lütterforst ergänzt. Mit geschlossenen Augen ließ sich jedem Haus anhand des speziellen Geruches das jeweilige Gewerk oder die Nutzung zuordnen. Eine solch eindeutige und charakteristische Geruchsvielfalt findet man in heutigen Städten kaum noch.

Ein Blick über die Nordpromenade fiel auf die prominent positionierten Gärtnereien Müller-Platz (Abriss des Hauses 1981) und Schley (derzeit entsteht ein Neubau).

Die Geschäftsvielfalt in der Brückstraße ermöglichte den Anwohnern den Einkauf aller Grundversorgungsgüter und sogar darüber hinaus in wenigen Schritten und in kurzer Zeit; es war ein übersichtliches Leben mit festen Strukturen, eine über Jahre gewachsene vertraute Umgebung, fast eine in sich geschlossene Einheit. 

Der Weg zurück in Richtung Markt führte vorbei am schmalen Nachbarhaus der Bäckerei (heute denkmalgeschützt), in dem die Schneiderwerkstatt Eickels ansässig war, vorbei an den Häusern Mommertz und Hahn: das „Brandt´sche Haus“,  dort erinnert heute eine Tafel der „Route gegen das Vergessen“ an das „Erkelenzer Kreisblatt“. Der Herausgeber Dr. Joseph Hahn stand von 1933 an unter dem Druck der Nationalsozialisten, dennoch konnte er bis 1943 das „Erkelenzer Kreisblatt“ drucken und herausgeben.  In der Häuserreihe folgt das Haus der Familien Spelten: Polizist in Erkelenz, seine Schwester war als Hebamme in Erkelenz bestens bekannt. Der Schuster, „Göttgens Hein“,  sohlte, nagelte und reparierte Stiefel und Schuhe – im Bedarfsfall auch Lederhosen.  Lebensmittel kaufte man bei Voormanns-Jansen. An der Ecke, am sogenannten „Reifferscheidts Plätzchen“, bot die Firma Hüben eine große Auswahl an Gardinen samt Zubehör, Teppichen und Polsterarbeiten. Bei Küppenbender ließen sich im Schaufenster die neuesten Radiogeräte bewundern und vor allem zog die Fernsehübertragung der Fußballweltmeisterschaft 1954 die Erkelenzer an. In mehreren Reihen und sogar mit Leiter ausgestattet, um eine optimale Sicht auf das Geschehen zu erlangen, versammelte man sich und fieberte bei den Spielen der Nationalmannschaft mit, wie Hans Baetz noch heute zu berichten weiß. 

Den daneben ansässigen Friseursalon der Gebrüder Colinett nahm man in solchen Spannungsaugenblicken eher nicht wahr. Wieder am Markt angelangt, fällt heute wie damals gegenüber dem Alten Rathaus das markante Haus mit Eckerker ins Auge, in dem sich das Ladenlokal der Geschwister Tophinke (vormals Brockmüller) befand. Das Geschäft bestach mit der feinen, reichen Auswahl an Schirmen, Schals, Herrenhüten und –kappen. Nicht zu unterschlagen ist jedoch die Spezialität des Hauses: Fliegen und Einstecktücher für jede Gelegenheit und jeden Geschmack.

Die Geschäftsvielfalt in der Brückstraße ermöglichte den Anwohnern den Einkauf aller Grundversorgungsgüter und sogar darüber hinaus in wenigen Schritten und in kurzer Zeit; es war ein übersichtliches Leben mit festen Strukturen, eine über Jahre gewachsene vertraute Umgebung, fast eine in sich geschlossene Einheit.

Geschäftsbeispiel und Gemeinschaftssinn

Mittendrin lag die Eisenwarenhandlung Clemens, die 1954 auf ein 100jähriges Bestehen zurückblicken konnte. Auf eine solch lange Tradition war durchaus eine Reihe Erkelenzer Geschäftsfamilien stolz, was in Anzeigen aus der Nachkriegszeit belegt ist.

© Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V. | 100 Jahre Clemens 1954

Zum Firmenjubiläum zitierten die Erkelenzer Nachrichten vom 15.11.1954 aus einer Bekanntmachung des Erkelenzer Kreisblattes vom 11. November 1854: „Allen Freunden und Gönnern die erg. Anzeige, daß der Unterzeichnete im Wege freundl. Uebereinkunft aus der bisher unter der Firma Gebr. Clemens geführten Schlosserei ausgeschieden und seine Werkstätte und sein Lager in die Brückstraße verlegt hat und hält sich in allen dies Fach einschlagenden Artikeln empfohlen. Heinrich Clemens“

Heinrich Clemens (1819-1891) hatte nach seiner Amerikareise 1849 zunächst mit seinem jüngeren Bruder gemeinsam die Schlosserei am Markt betrieben, die er selbst nach dem Tod des Vaters Johann Wilhelm Clemens 1831 übernommen hatte. Am 8. Juni 1854 heiratete er Catharina Kronenberg aus Neuß. Die geschäftliche Trennung hatte offenbar den Hintergrund der eigenen Familiengründung und dem damit verbundenen Wunsch nach räumlicher und beruflicher Eigenständigkeit. Damalige Schlossereibetriebe konnten nicht auf industriell vorgefertigte Produkte zurückgreifen, sondern sie fertigten z. B. Schlösser, Ornamentgitter, Beschläge und Zubehörteile nach eigenen Entwurfszeichnungen.

Nach seinem Tod 1891 übernahm sein Sohn Stephan Aloys Clemens (1863 – 1917) Werkstatt und Geschäft in der Brückstraße. Er war wie sein Vater Schlossermeister. Neben dem Schlossereibetrieb zählte auch der Verkauf von Haushaltswaren zum Geschäft. Zu einem Haushalt Ende des 19. Jahrhunderts gehörte jede Menge Haushaltsgerät aus Zink oder emailliert. Das Warenspektrum wird auch an erhaltenen Rechnungen deutlich.

Aloys Clemens, seit März 1898 verwitwet, starb 1917; drei seiner Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Sein jüngster Sohn Robert Clemens (1896 – 1955) übernahm nach dem Tod des Vaters in 3. Generation das elterliche Geschäft, das er umbaute und durch den Kauf des Nachbarhauses vergrößerte. Seit 1923 war Robert Clemens mit Agnes Schroeder verheiratet. Hyperinflation, Goldene Zwanziger, Weltwirtschaftskrise und der Beginn der nationalsozialistischen Diktatur sind die historischen Ereignisse, vor deren Hintergrund das erste Jahrzehnt des Privat- und Geschäftslebens der dritten Clemens-Generation abläuft. Anders als sein Großvater und sein Vater war Robert Clemens Kaufmann und kein Schlossermeister.

Aus dem ursprünglichen Handwerksbetrieb wurde also ein Geschäftshaushalt. Das Unternehmen wurde ausschließlich als Eisenwarenhandlung mit einem breiten Angebot an Haus- und Küchengeräten, Werkzeugen, Baubeschlägen sowie Herden und Öfen fortgeführt.

© Agnes Borgs | 75 Jahre Firma Clemens Einladung

Zum 75jährigen Bestehen 1929 gratulierte die Nachbarschaft mit einem Glückwunsch in der Zeitung, zugleich zeigt der kleine Zeitungsaufruf, in welch intensiver Weise Nachbarschaftsleben in der Brückstraße gepflegt wurde. Der allgemein bekannte Treffpunkt und eingespielte Abläufe – eben Feiern „in gewohnter Weise“ – waren Merkmal der gut funktionierenden Nachbarschaft.

Die Brückstraßengemeinschaft hatte auch an kirchlichen Feiertagen feste Aufgaben, dazu gehörte der Aufbau und das Betreuen des 1. Stationsaltars bei der jährlichen Fronleichnamsprozession: der Überlieferung nach stand er vor dem 2. Weltkrieg über viele Jahre an der Ecke Brückstraße/Wallstraße unter Kastanien mit Blick auf Stadtmauer und Burg.

© Agnes Borgs | 1933 Fronleichnam Altar
Altar zu Fronleichnam am 15. Juni 1933

Die kirchliche Tradition der Fronleichnamsprozession stand in den 1950er Jahren außer jeder Frage. Allerdings musste sich die Pfarrgemeinde St. Lambertus unter ihrem neuen Pastor Hans-Walter Bosch an einige Änderungen gewöhnen. 1959 zog die Fronleichnamsprozession nicht zu Beginn durch die Brückstraße, der neue „Oberpfarrer bestimmte den Weg ab Kirche durch  Burgstraße und Pangel zum 1. Hochaltar vor Müller-Platz. Die Fa. Schley war an der Reihe zu schmücken. Mit „Sorgfalt und Hingabe“ wurde diese Aufgabe erfüllt. Bilder und Beschreibungen untermauern, mit welchem Aufwand und persönlichem Einsatz kirchliche Feste wie hier die Fronleichnamsprozession als Gemeinschaftsaufgabe der Nachbarschaft organisiert  und durchgeführt wurden. Die Häuserfronten wurden mit blau-weißen Fähnchen geschmückt, dazu Grünpflanzen an die Straße gestellt, manchesmal Sisalteppiche ausgerollt und Blumen oder Blütenblätter gestreut. Fronleichnam 1962 war kühl und wolkenverhangen, dennoch musste „der 1. Segensaltar auf dem Wehrgang der alten Erkaburg dem Wunsche des Oberpfarrers entsprechend“4 gestaltet werden. Seit dem Anfang der 1960er Jahre wurde der erste Altar dann regelmäßig auf dem Burghof aufgebaut. Eine Besonderheit aus dem Jahr 1965 ist erwähnenswert: In der Nacht vor dem Fronleichnamstag zog ein Unwetter mit Starkregen über Erkelenz. Regen und Sturm waren so heftig, dass der Altar samt Kruzifix vom Wolfsturm in die Tiefe stürzte. Wegen des starken Unwetters fiel in diesem Jahr die Fronleichnamsprozession aus.

Noch in den 1950er Jahren war das Aufhängen der Fahnen zu Fronleichnam und Kirmes Tradition. Die von einer Straßenseite auf die andere aufgespannten Wimpel konnten nur in Nachbarschaftsabsprache gehängt werden. Die festen Nachbarschaftsbeziehungen zeigten sich neben den Feiern und den Festen auch bei Todesfällen und Beerdigungen. Beim Leichenzug zum Friedhof war es Tradition, dass ein Kind aus der Nachbarschaft als Zeichen der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit das Namenskreuz des oder der Verstorbenen hinter dem Sarg trug. 

Brückstraße in nationalsozialistischer Zeit – ein Rückblick

© Stadtarchiv Erkelenz | 1934 Brueckstrasse vom altem Lambertusturm aus
Horst-Wessel-Straße (umbenannte Brückstraße) 1934

Das Jahr 1933 brachte für die Brückstraße genau wie für andere Erkelenzer Straßen einen gravierenden Einschnitt. Straßennamen wurden den politischen Bedingungen folgend geändert. Am 12. März 1933 war bei der ersten Kommunalwahl nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in Erkelenz der Stadtrat neu gewählt worden. Am 4. April 1933 stellte der Kreisleiter der NSDAP Kurt Horst in der 1. Sitzung des Stadtrates nach dem Amtsantritt Hitlers neben weiteren Anträgen auch den Antrag, der Brückstraße die Bezeichnung Horst-Wessel-Straße zu geben. Die Straßen- und Platzbenennung gehörte in nationalsozialistischer Zeit zu den Entscheidungsbefugnissen der Polizeiverwaltung. Die Stadtverordnetenversammlung, die in den Namensänderungsvorgang noch einmal eingreifen wollte, hatte in dieser Angelegenheit keine Entscheidungskompetenz mehr. So lief der Antrag vom 6. Juni 1933, die Benennung rückgängig zu machen, ins Leere. Die Brückstraße hieß daher von 1933 bis 1945 Horst-Wessel-Straße.5

Mit der Änderung der Postanschrift waren Geschäftsleute gezwungen, ihre Brief- und Rechnungsköpfe anzupassen. Insgesamt veränderte sich das Gesicht einer Straße und einer Stadt unter den Setzungen der Nationalsozialisten. Beispiele sind die Aufforderungen zum Kauf einheimischer Produkte und die Aufnahmen der Brückstraße zur Feier vom 1. Mai 1933.

Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg

Für die kriegszerstörten Städte war der Wiederaufbau eine extreme Herausforderung, die nur Schritt für Schritt gemeistert werden konnte. Private und behördlich beauftragte Fotografen haben das Ausmaß der Zerstörung dokumentiert. „Statistische Angaben aus dem Jahr 1945 sprechen hiervon in deutlicher Sprache. Nach dieser zahlenmäßigen Aufschlüsselung wurden in der Kreisstadt Erkelenz 209 Wohnhäuser zerstört und 536 Wohnhäuser verschiedengradig beschädigt; nur 2 Wohnhäuser blieben unversehrt. […] Durch die Zerstörung an Wohngebäuden verlor Erkelenz rund 73 000 qm Wohnfläche.“6 Die Einwohnerzahl ist zum Stichtag 2. Dezember 1945 mit 5835 Personen beziffert. Auch für die Brückstraße ist die Zerstörung und der damit erkennbare materielle Schaden fotografisch festgehalten. „Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe, Gemeinsamkeit, diese ‚Tugenden’ wurden damals besonders gepflegt.“7 Die für den Wiederaufbau nötige individuelle körperliche und geistige Kraftanstrengung ist weniger messbar, eher ahnbar oder in Erzählungen überliefert.

Anfang des Jahres 1952 zählte die Stadt rund 7900 Einwohner. Im gesamten Stadtbild zeigten sich in den 1950er Jahren neben den wieder errichteten Häusern Baulücken oder eindeutige Trümmergrundstücke. Die Brückstraße stellte in dieser Beziehung keine Ausnahme dar; zwischen Bleidt und dem Schuhgeschäft Simons wurde das freie Grundstück erst in den 1960er Jahren bebaut. Allmählich erst entstand in der Brückstraße die geschlossene Bebauung und das derzeitige Straßenbild.

© Hans Baetz | Zerstörung Brückstraße
Innerstädtisches Trümmergrundstück. Das Schuhgeschäft stellt Ware im Untergeschoss aus, der erste Stock ist noch unbewohnbar.
Um die Ausstellungsfläche zu vergrößern, baute der Inhaber später an der rechten Seite um und so entstand die erste Fensterpassage in Erkelenz.

Die Zerstörung des Hauses stellte auch die Familie Clemens nach der Rückkehr aus der Evakuierung bei Kriegsende vor die große Aufgabe des Neubeginns. An der bisherigen Stelle wurde im Jahr 1948 mit der Errichtung eines neuen Geschäftshauses begonnen, das 1950 fertig gestellt war.

© Agnes Borgs | Laden Clemens ca 1950
1950: Agnes Clemens mit neuen Waren auf der Theke

„Nach menschlichem Ermessen ist der Fortbestand des Hauses durch zwei Enkel gesichert.“ Diese zum 100jährigen Geschäftsbestehen ausgesprochene Hoffnung von Robert Clemens erfüllte sich nicht. Er starb im Oktober 1955, inzwischen gab es drei Enkelkinder unter vier Jahren. Bis 1968 führte seine Ehefrau das Geschäft fort.

© Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V. | Werbung 1956 Gewerbe- u. Verkehrsverein

Wie einzelne Erkelenzer Geschäftsleute annoncierte auch der Gewerbe- und Verkehrsverein im Heimatkalender der Erkelenzer Lande. Unmissverständlich nennt der Anzeigentext  die Erwartung und das Ziel, das Geschäftsleben zu reaktivieren. Ebenso deutlich und selbstbewusst ist der Verweis auf die Tradition der Stadt. Zwei Gesichtspunkte, die auch heute im Zusammenhang mit Stadtentwicklungskonzepten aufgeführt werden. Der Hinweis, dass der „Wiederaufbau der Stadt nahezu abgeschlossen“ ist, ist dagegen ganz im Hoffnungskontext des Jahres 1957 zu lesen.

Aktuelle Eindrücke (2023)

Keines der noch in den 1950er Jahren in der Brückstraße ansässigen Geschäfte existiert mehr. Die Geschäftstraditionen wurden in den nachfolgenden Generationen nicht fortgeführt, es wurden andere Ausbildungs- und Berufswege eingeschlagen.  Damit spiegelt die Entwicklung der Brückstraße drastisch den  Rückgang der Fach- und Einzelhandelsgeschäfte.  Beratung im Geschäft und anschließender Kauf im Internet wird als ein Grund für diese Entwicklung ausgemacht.

Die Brückstraße ist heute keine Hauptgeschäftsstraße mehr, sie ist jedoch fern von Behaglichkeit und Ruhe. Die Brückstraße ist eine Straße mit Geschäften (Fotozubehör, Handys, Oberbekleidung, orthopädischer Schuhmacherbetrieb), Arzt- und Therapiepraxen und nachgefragten  Dienstleistungsangeboten (Friseur, Haushaltsleistungen, Nachhilfe und Beratungsstelle der Caritas), nicht zuletzt Weingastronomie. Zudem sind neue Wohnhäuser anstelle der Altbauten getreten, doch soll das Haus Nr. 8 bewusst Elemente des alten Bleidt-Hauses aufgreifen. Altbauten sind aufgestockt und auf einen neuen, zeitgemäßen Wohnstandard gebracht worden (zuletzt ehemals Hahn). Manchmal ermöglicht dann sogar der Nutzungswechsel eines Hauses einen Blick auf ästhetische Details.

Auch wenn die Brückstraße in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Wandel erfahren hat, ist sie nach wie vor eine Straße im unmittelbaren Zentrum der Stadt Erkelenz. Die Brückstraße ist keine Straße im Abseits, sie war und ist lebendig!8

  1. Spichartz, Willi: So schön war die Brückstraße, a. a. O.
  2. Lennartz, Görtz: Erkelenzer Straßen, a. a. O. Seite 50 ff.
  3. Rheinischer Städteatlas, a. a. O., Seite 3
  4. private Aufzeichnungen von A. Clemens für die Jahre 1948 – 1968
  5. siehe Lennartz, Görtz, a. a. O., Seite 35 bis 36
  6. Bericht der Stadtverwaltung Erkelenz für die Zeit vom 21.6.1948 – 20.10.1952, Einleitung
  7. Stein, Willy, Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Erkelenz – Zerstörung und Aufbau“ am 23. Februar 1985, abgedruckt im Jahresband 1985 des Heimatvereins, Eigendruck, S. 50.
  8. Text von Agnes Borgs 2023 für den Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V.
  1. Rheinische Post Mediengruppe (Hrsg.), Rheinische Post. Düsseldorf, vom 25. 09. 2021. Darin: Willi Spichartz: So schön war die Brückstraße
  2. Heimatverein der Erkelenzer Lande e.V. (Hrsg.), Schriftenreihe des Heimatvereins der Erkelenzer Lande e.V.. Band 3, 1982. Lennartz, Josef und Görtz, Theo, Erkelenzer Straßen.
  3. Landkreis Erkelenz und Heimatverein der Erkelenzer Lande, Heimatkalender der Erkelenzer Lande. Erkelenz, Jahrgänge 1965, 1957

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