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Das Krisenjahr 1923 in Erkelenz

Kategorien: Zeitgeschehen
Stichworte: Besatzungszeit
1918 bis 1926

Ausgangslage

Es wird heute so gerne von den „Goldenen Zwanzigern“ gesprochen. Damit ist die Zeit zwischen 1924 und 1929 gemeint. Die Jahre davor, ab 1918 waren alles andere als „goldig“, insbesondere das sogenannten Krisenjahr 1923.

Die Jahre 1918 bis 1923 waren insgesamt chaotisch: Novemberrevolution, Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte, Besatzung im Rheinland und militärische Einquartierungen, Elend der Kriegsheimkehrer, der Witwen und Waisen, sich verschärfende Versorgungskrise, hohe Arbeitslosigkeit, galoppierende Geldentwertung, politische Radikalisierung, Aufstände und Plünderungen, Ruhrbesetzung und passiver Widerstand.

Wie sah es in Erkelenz aus?

Allgemein

Die Ereignisse der allgemeinen Lage wirkten sich natürlich auch auf das Leben in Erkelenz aus. Seit 1918 war Erkelenz von alliierten Truppen (wechselnd französiche bzw. belgische Truppen) besetzt, die weitgehend das tägliche Leben bestimmten. Einquartierungen, Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Zensur oder Fotografierverbot seien stellvertretend genannt.

© Archiv Heimatverein | Buergermeister-Johannes-Spitzlei

Bürgermeister Johannes Spitzlei (Bürgermeister in Erkelenz von 1916 bis 1932) berichtet ausführlich in der Chronik der Gemeinde Erkelenz1 zum Krisenjahr 1923: „Dieses Jahr war für die Verwaltung das bisher schwierigste, die Besetzung des Ruhrgebietes und der damit verbundene passive Widerstand (vom 13.01. bis 26.09.1923) waren unüberbrückbare Schwierigkeiten“ .

Auswirkungen auf den Verkehr

Französische und belgische Truppen hatten am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzt, nachdem Deutschland minimal im Rückstand mit den Reparationen war, nämlich der Lieferung von Telegraphenmasten. Die Reichsregierung rief dann zum „passiven Widerstand“ auf, d. h., den Anordnungen der Besatzer sollte keine Folge geleistet werden. Folglich leisteten die deutschen Eisenbahner passiven Widerstand und stellten insgesamt ihre Arbeit ein. Etliche Vesuche der Besatzer, die Eisenbahner zur Rückkehr zu bewegen, scheiterten. Die Franzosen versuchten dann ab März 1923, die Eisenbahnen als sogenannten „Regiebetrieb“ selbst zu betreiben. Das war aber äußerst schwierig, so waren die Stellwerke nicht besetzt und die von der Besatzung angeheuerten Eisenbahner kamen mit der deutschen Technik nicht zurecht. Deshalb fuhren die Züge unregelmäßig und die deutsche Bevölkerung boykottierte die Regiebahn. Es musste also Ersatz geschaffen werden. So wurde im Kreis Erkelenz eine Autobuslinie eingerichtet, von Mönchengladbach über Rheindahlen, Erkelenz, Baal, Hückelhoven, Linnich nach Puffendorf. Hier bestand dann Ansschluss an das Aachener Netz.

Es war natürlich auch für viele Erkelenzer Arbeitnehmer eine große Herausforderung, ihre Arbeitsstellen insbesondere in Mönchengladbach oder Rheydt zu erreichen. Spitzlei vermerkt dazu, dass die Stadt Autobusse angemietet hatte, welche die Arbeiter nach Rheindahlen brachten, von wo aus sie mit der Straßenbahn nach Mönchengladbach und Rheydt fahren konnten. Abends wurden sie auch wieder abgeholt. Ende April wurden diese Transporte von der Besatzung verboten. Damit wurden viele Arbeitnehmer erwerbslos, am 1. Mai waren es 417 bei etwa 6.800 Einwohnern. Spitzlei berichtet weiter, dass jetzt auf den Straßen ein reger Verkehr mit Fahrrädern, Motorrädern und Autos einsetzte. Autos durften aber nur benutzt werden, wenn sie von der Besatzung genehmigt waren, und das galt auch nur für begrenzte Bereiche.

Die Inflation

Eine weitere Belastung für die Bürger war auch die Inflation, die nach Kriegsende immer mehr zunahm und im Jahre 1923 mit der sog. Hyperinflation ihren Höhepunkt erreichte. So kostete im Mai 1923 in Berlin – und nicht nur dort – ein Kilo Brot 474 Mark. Zwei Monate später war der Preis auf 2200 Mark gestiegen, Anfang Oktober waren es 14 Millionen. Noch einmal vier Wochen später kostete der Brotlaib 5,6 Milliarden Mark. Währungstechnisch wurde die Inflation am 15. November 1923 mit Einführung der Rentenmark (wertgleich mit der späteren Reichsmark) beendet.

Zur Geldentwertung notierte Spitzlei, dass am 2. Januar 1923 eine Goldmark 1.728,6 Papiermark entsprach, am 1. Oktober waren es 57.763.000 Papiermark und am 1. November 31.029.760.000 Papiermark, heute für uns unvorstellbar.

© Planet Wissen | Geldscheine im Hyperinflationsjahr 1923
Die Hyperinflation von 1923

Die Versorung der Bevölkerung

Infolge der Inflation war die Versorgung der Bürger recht schwierig. So wurden bereits im Jahre 1922 von der Stadt Erkelenz Kartoffelanbauverträge geschlossen. Von März bis Juni 1923 wurden dann Kartoffeln an die Personen abgegeben, die bedürftig waren und über keinerlei Vorräte verfügten. Auch die Fleischversorgung war schlecht. Im August 1923 kaufte die Stadt bei Bauern in der Gegend wöchentlich ein Rindvieh und 2 bis 3 Schweine. Diese wurden im städtischen Schlachthof geschlachtet und dort auch verkauft. Spitzlei vermerkt dazu, dass bei der Beschaffung teilweise Zwang angewendet werden musste, weil Bauern die freiwillige Herausgabe verweigerten.

Auch die Kohleversorgung in Erkelenz stockte mit der Besetzung des Ruhrgebietes (Anfang 1923) und dem folgenden passiven Widerstand völlig. Die Stadt organisierte Transporte und verkaufte auch die Kohlen. Die Preise waren aber fast unerschwinglich, wie in der Chronik vermerkt ist. So kostete Anfangs ein Zentner Brikett 1.840 Mark, dies steigerte sich bis auf zwei bis zweieinhalb Billionen Mark.

In diesem Zusammenhang berichtet Spitzlei, dass es, durch die Not der Bevölkerung bedingt, immer wieder zu Diebstählen gekommen sei, z. B. wurde Holz in großen Mengen im Wahnenbusch und im Elsenkamp gestohlen.

Bestimmte Personen wie Kleinrentner, kinderreiche Familien und Kriegerwitwen wurden von einer „Notgemeinschaft“ (1922 gegründet) unterstützt. Diese sammelte Geld, Lebensmittel oder Kleidungsstücke und verteilte sie direkt an die Bedürftigen. Auch wurde im Jahre 1923 eine „Sterbenotgemeinschaft“ gegründet, um sich gegenseitig bei Todesfällen zu unterstützen.

Im Januar 1923 wurde eine Quäkerküche eröffnet, die von der Stadt finanziert wurde. Laut Spitzlei wurden täglich 120 Kinder – durch ärztliche Untersuchung ausgewählt – versorgt. Die Versorgung bestand aus Kakao und Brötchen sowie verschiedenen Suppen, z. B. Haferflocken- oder Graupensuppe.

Am 28. Juni wurde die Auszahlung der Erwerbslosenunterstützung durch die Stadtkasse verboten, die Erwerbslosen mussten sich jetzt selbst um das Geld bemühen. Im unbesetzten Gebiet war die Auszahlung ohne Schwierigkeiten möglich, deshalb wurden die Gelder auf Schleichwegen nach Erkelenz gebracht. Aber immer drohte die Gefahr der Beschlagnahme durch die Besatzer. Erst ab dem 22. Oktober durften die Gelder wieder von der Stadtkasse ausgezahlt werden. Die Zahl der Erwerbslosen betrug an diesem Tag 433, die der Kurzarbeiter 807.

Weitere Folgen des passiven Widerstandes

Als im Jahre 1923 der passive Widerstand begann, wurden viele Bürger im besetzten Gebiet ausgewiesen, auch Erkelenzer Bürger. So wurden z. B. Eisenbahner oder Beamte von Zoll oder Polizei ausgewiesen und mussten Erkelenz mit der gesamten Familie verlassen. Dazu gehörten u. a. der ehemalige Bürgermeister und Ehrenbürger Bernhard Hahn und der Polizeikommissar Johnen. Die Häuser bzw. Wohnungen wurden beschlagnahmt. Die letzten der Ausgewiesenen kehrten erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1924 zurück.

© Archiv Spichartz | unbekannt | Sechs-Bogen-Brücke bei Brachelen

Neben dem passiven Widerstand gab es immer wieder Überfälle auf Eisenbahnzüge und Sabotageakte an Brücken und Gleisen. Ein solcher Sabotageakt wurde u. a. im Mai 1923 an der sogenannten Sechs-Bogen-Brücke bei Brachelen verübt, der aber nur mäßigen Schaden verursachte.

Separatistenaufstand

Der Separatistenputsch im Jahre 1923 verlief in Erkelenz harmlos. Ziel dieser Bewegung war eine Unabhängigkeit des Rheinlands als selbstständige Republik, die auch im Oktober 1923 errichtet wurde. Die Einigkeit des Reichs (man spricht auch in der Weimarer Republik immer von dem Reich) war in Gefahr. Das Spektrum der Separatisten war sehr weit gefächert. Es reichte von asozialem Gesindel bis zu angesehenen Bürgern. Zwar wurde am 21. Oktober 1923 auch die „Rheinische Fahne“ am Rathaus und Landratsamt in Erkelenz aufgezogen, aber einen Tag später wieder entfernt, damit war die separatistische Bewegung in Erkelenz schon beendet. Wie das in Erkelenz im Einzelnen abgelaufen ist, wird in einem gesonderten Beitrag beschrieben.

Ende der Besatzungszeit

© Archiv Heimatverein | Wilhelm Schmitter | Markt, 1926
Die Besatzungstruppen verlassen Erkelenz
© Stadtarchiv Erkelenz | Aufruf Fackelzug

Ab dem Jahre 1924 besserte sich die Lage langsam, aber bis zum 31. Januar 1926 war Erkelenz noch besetzt. Als die letzten Truppen abzogen, jubelte die Bevölkerung und feierte überschwänglich die „Befreiung“. Bürgermeister Spitzlei rief die Erkelenzer Bevölkerung zum 01. Februar zu einem Fackelzug auf.2

  1. Dankenswerterweise zur Verfügung gestellt vom Stadtarchiv Erkelenz
  2. Text von Günther Merkens 2023 für den Heimatverein der Erkelenzer Lande unter Benutzung der „Chronik der Gemeinde Erkelenz“, Quelle: StA Erk E1C/86

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