Vorbemerkung
Als Albertine Steinacker im April 1948 mit 92 Jahren starb, hatte sie die durchschnittliche Lebenserwartung der damaligen Zeit deutlich überschritten. Das Geburts- und das Sterbejahr von Albertine Steinacker umfassen in erster Linie 92 Jahre eigenes Leben, aber dieses Leben ist eingebettet in 9 Jahrzehnte politische Entwicklung und Umbrüche in Deutschland.
Politischer Hintergrund
Geboren wird Albertine Steinacker am 16. Oktober 1855 in Altenlinde, ein kleiner Weiler, der seit dem Ende der französischen Herrschaft im Rheinland in den Regierungsbezirk Köln zur Bürgermeisterei Lindlar gehört. 1845 werden für diesen Ort 5 Wohngebäude mit 45 Einwohnern erfasst; 1871 hatte sich die Einwohnerzahl auf 52 Personen in dann 7 Wohngebäuden erhöht.1 Alle Bewohner waren katholisch.
In ihrem Geburtsjahr 1855 regierte Friedrich Wilhelm IV. in Berlin. Ziel all seiner politischen Maßnahmen war die Festigung der Monarchie und die Beruhigung der Bevölkerung zur Vermeidung revolutionärer Bestrebungen. In die Lebenszeit von Albertine Steinacker, die in der Monarchie geboren wird, fallen gravierende politische Ereignisse und gesellschaftliche Veränderungen, die hier stichwortartig genannt werden:
- Auf die Regierungszeit von Fried. Wilh. IV. folgt Wilhelm I. und 1888 das Dreikaiserjahr mit Friedrich III. und Wilhelm II.,
- das Dreiklassenwahlrecht gilt,
- Deutsche Einigungskriege und die Gründung des Deutschen Reiches 1871,
- Kulturkampf und Sozialistengesetz,
- Industrialisierung, soziale Frage und die Veränderungen in der Landwirtschaft,
- 1. Weltkrieg, Abdankung des Kaisers und Abschaffung der Monarchie,
- Gründung der Weimarer Republik und Einführung des Frauenwahlrechts,
- die Weltwirtschaftskrise,
- das Jahr 1933: Hitler wird Reichskanzler und die Herrschaft der Nationalsozialisten beginnt,
- 2. Weltkrieg,
- Alliierte Vier-Mächte-Politik, Leben in der britischen Besatzungszone
Ausbildung und Beruf
An ihrer Ausbildung zur Lehrerin sind punktuell die politischen Verhältnisse greifbar. Albertine Steinacker wird an der Lehranstalt der Ursulinen Sankt Leonhard in Aachen auf ihren späteren Beruf vorbereitet. Die Ursulinen waren von 1848 bis 1878 in Aachen tätig; sie führten von 1855 an (das Geburtsjahr von A. Steinacker) die Ausbildung zur Volksschullehrerin durch. Diese Lehrerinnenausbildung war keine staatliche Ausbildung, staatliche Ausbildungsanstalten wurden erst unter Kultusminister Adalbert Falk und seinen Nachfolgern eingerichtet.
Am 12. Oktober 1876 bestand Steinacker das Abschlussexamen und „erhielt am 1. Januar 1877 ihre Anstellung als Lehrerin an der einklassigen Mädchenschule in Golkrath“ – so gibt der Totenzettel Auskunft.
Die von ihr durchlaufene Ausbildung wäre schon im darauf folgenden Jahr nicht mehr möglich gewesen, da die Ursulinen an Sankt Leonhard in Aachen 1878 in Folge des Kulturkampfes ausgewiesen wurden.
Zwischen 1877 und 1920 war Albertine Steinacker ohne Unterbrechung in Golkrath für den Unterricht der Mädchen verantwortlich. Sie war die zweite Lehrkraft für eine Mädchenklasse. Seit der Zweiklassigkeit der Schule in Golkrath 1864 wurde der Unterricht nach Geschlecht getrennt durchgeführt. Mit dieser langen, ortsfesten Berufstätigkeit von Albertine Steinacker war eine Konstanz in der Basisbildung für die Mädchen des Ortes gewährleistet, allerdings in meist großen Klassen mit mehr als 40 Schülerinnen. Die Schulbildung für Mädchen war Ende des 19. Jhs. grundsätzlich vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Rollenverständnis Mädchen im weiteren Leben als Hausfrau und Mutter sah.
Aber auch als Lehrerin unterlag Albertine Steinacker einem Rollenbild, das in staatlichen Setzungen fixiert war. Zwar handelte es sich bei der Lehrerinnenausbildung keineswegs um ein Studium, dennoch bot dieser Ausbildungsweg jungen Frauen den Zugang zu eigener Bildung und Selbstständigkeit. Allerdings galt für Albertine Steinacker wie für alle Lehrerinnen ab 1880 die „Zölibatsklausel“, d. h., bei einer Heirat hätte sie aus dem Dienst ausscheiden müssen und mit der Eheschließung wäre auch jeder Anspruch auf ein Ruhegehalt erloschen. Diese „Zölibatsklausel“ galt mit kurzer Unterbrechung bis Anfang der 1950er Jahre. Die Grundprinzipien dieser Regelung spielten für Albertine Steinacker keine Rolle. Sie blieb für ihre Schülerinnen, deren Eltern und in Golkrath zeitlebens: „Fräulein Steinacker“. Auch nach ihrer Berufstätigkeit wohnte sie in Golkrath; das Adressbuch 1927 verzeichnet:
Straßennamen fehlen in Golkrath, die Häuser sind nummeriert. Erst im Jahr 1952 wurden in der Gemeinderatssitzung vom 11. März für Golkrath Straßennamen festgelegt.2
Überliefertes Tagebuch aus der Evakuierung
Zeitzeuginnen ihres Unterrichts sind längst verstorben. Private Unterlagen aus der Schulzeit sind erst recht nach zwei Weltkriegen allenfalls zufällig vorhanden. Auch stellt sich für denjenigen, der einen Familiennachlass durchsieht und sortiert, bei alten Schulheften und Zeugnissen oder privaten Fotos die Frage der Relevanz.
Von Albertine Steinacker ist ein Tagebuch über den Zeitraum von Dezember 1944 bis Januar 1946 aus der Evakuierung in Kreisfeld (heute Sachsen – Anhalt) überliefert3, das in einem die Ortsgeschichte darstellenden Buch abgedruckt ist.
Dem hohen Alter und der Mangelwirtschaft geschuldet, beziehen sich viele Eintragungen auf Krankheit, körperliche Gebrechlichkeit und Not. Für den 23. Mai 1945 hält sie es für wichtig, auf die erste Tasse Milch hinzuweisen, die sie seit dem fluchtartigen Fortgang aus Golkrath trinken konnte. Sie notiert weiter, dass ihr Äpfel und sogar einzelne Blütenstengel geschenkt werden. Auch in der Evakuierung bestimmen Sonn- und Feiertage mit Beichte und Messbesuch, Todesfälle und Beerdigungen sowie Namens- und Geburtstage den Eintragungsrhythmus.
Über diese vielleicht erwartbaren Notizen hinaus, gibt es zwei weitere erwähnenswerte Gesichtspunkte. Mehrfach vermerkt A. Steinacker, dass ihre Pension in Eisleben abgeholt werden konnte, auch die Nichtauszahlung im Mai 1945 ist festgehalten. In diesem Zusammenhang fehlt jedoch ein Hinweis auf die reale Kaufkraft dieses Geldes.
Besonders intensiv dokumentieren die Aufzeichnungen allerdings die Verbundenheit Albertine Steinackers mit den Golkrathern und die Identifikation mit dem Ort.
Am 24. April 1945 kamen zu ihrem Namenstag fast alle Golkrather, die hier[in Kreisfeld] evakuiert sind, gratulieren. Trotz einer solchen Freude konstatiert sie am 12. Juli 1945: Wir alle sind krank vor Heimweh. […] Ich fürchte immer, in meinem hohen Alter hier zu sterben und möchte so gerne in Golkrath begraben sein. Dieser Wunsch wird im Zusammenhang mit Todesfällen von Golkrathern, die während der Zeit in Kreisfeld sterben, mehrfach bekräftigt. Das gemeinsame Schicksal in der Evakuierung schweißt die Gruppe der Dorfbewohner aus Golkrath zusammen, denn einige haben sich ein Opfer zum Aufbau der zerstörten Kirche in Golkrath vorgenommen, wenn wir in diesem Monat heimkommen. Ich schließe mich an. Mit voranschreitender Dauer in der Evakuierung werden die Eintragungen ausführlicher und zeigen das Koordinatensystem im Leben von Albertine Steinacker recht genau: Heute [16. Oktober 1945] wurde ich 90 Jahre alt erlebte meinen 91.Geburtstag in Kreisfeld in Sachsen in der Verbannung. Wie hatte ich gehofft, diesen Tag in Golkrath im Kreise meiner Bekannten und Schülerinnen zu feiern! Es wäre zu schön gewesen, es hat nicht sollen sein. Der liebe Gott hat es anders gewollt. Damit müssen wir zufrieden sein. Meine Stimmung war schwermütig und voll Heimweh. […]4
Andenken
Am 12. Januar 1946 kehrte Albertine Steinacker nach Golkrath zurück, dort starb sie am 15. April 1948 und wurde auf dem Ortsfriedhof beerdigt.
Die Eintragungen in ihrem Tagebuch machen die Kennzeichnung des Totenzettels, Golkrath sei ihr eine zweite Heimat geworden, plastischer. Darüber hinaus zeigen die Eintragungen Leben und Arbeit, gemeinsam Erlebtes und kulturell-religiöse Gemeinschaft als wichtige Komponenten für ihr Heimatbewusstsein und Heimatgefühl.
Die Steinackerstraße in Golkrath bezeichnet nicht die Bodenbeschaffenheit der Straße vor der Asphaltierung. Der Straßenname, der schon 1954 im Einwohnerverzeichnis für den Ort zu finden ist, erinnert vielmehr bereits sechs Jahre nach dem Tod an die Lehrerin Albertine Steinacker.
Ein erklärender Hinweis auf die Bedeutung der Straßenbezeichnung ist mit wachsendem zeitlichen Abstand wahrscheinlich lohnend.5
- https://de.wikipedia.org/wiki/Altenlinde Stand: 02.2025
- Dorfgemeinschaft Golkrath – Hoven (Hrsg.), Golkrath, Hoven – früher und heute, S. 49/50
- Dorfgemeinschaft Golkrath – Hoven (Hrsg.), Golkrath, Hoven – früher und heute, S. 39 – 44
- Dorfgemeinschaft Golkrath – Hoven (Hrsg.), Golkrath, Hoven – früher und heute, S. 39 – 44
- Text: Agnes Borgs, im Februar 2025 für den Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V.
- Golkrath-Hoven, früher und heute. ,
- Heimatkalender der Erkelenzer Lande. Erkelenz, 1958. Germanns, Peter, Golkrath um 1900, S. 75-81 ,
- Wikipedia Deutsch. https://de.m.wikipedia.org/, Altenlinde (Stand: 02.2025) ,
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