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Ein modernes Märchen

sonstiger Name: Bedrohte Bauernhöfe
Kategorien: Kultur Literatur
Stichworte: Prosa
2024

Der gerettete Bauernhof 

Ein modernes Märchen über die vom Tagebau Garzweiler II bedrohten Bauernhöfe unserer Heimat
von Frank Joußen

Es war einmal ein alter Bauernhof im Erkelenzer Land. Ihr mögt jetzt denken, ein Bauernhof sei etwas ganz Alltägliches und nicht der Rede wert. Aber nein, denn schon jedes normale alte Haus besitzt eine Seele. Ein ganzer Bauernhof hingegen beherbergt viele Geschöpfe, große und kleine. Von daher besitzt er viele Seelen – und viele Leben. Zudem lag dieser Bauernhof inmitten des fruchtbarsten Ackerlandes. Aber das schien alles nichts zu nützen: Der Bauernhof und das seit vielen Jahrhunderten bewirtschaftete Land um ihn herum befanden sich in größter Gefahr.

© RRP | Rudolf Recker-Proprenter | Roitzerhof
Roitzer Hof

Wie kann das sein, mögt ihr denken? Nun, der Bauernhof war zwar groß und alt und außerdem sehr gut in Stand gehalten. Er wurde aber von gewaltigen, fossilen Mächten bedroht: Den Schaufelradbaggern. Diese hatten sich über Jahrzehnte scheinbar unaufhaltsam dem schönen Bauernhof genähert. Trotz aller Bemühungen hatte sie niemand aufhalten können. Doch eines Tages geschah das völlig Unerwartete: Als sich die Baggerführer mit ihren übergroßen Vernichtungsapparaten dem Bauernhof bis auf Sichtweite genähert hatten, hielten sie einen Moment inne. Es ist wirklich sehr schwer zu erklären. Ich würde euch gerne sagen, dass sie sich anschauten, sich miteinander berieten. Aber das war bei der Entfernung zwischen ihnen gar nicht möglich.

© Wolfgang Lothmann | Herrenhaus

Auf jeden Fall stoppten sie ihre Schaufelradbagger. Nicht ein einziges Gramm Kohle konnten sie mehr aufnehmen. Die Baggerführer verließen ihre Kabinen, streckten ihre steifgewordenen Glieder und begannen zielgerichtet zu gehen. Sie gingen durch ihren gigantischen, staubigen „Arbeitsplatz“ hindurch und ließen die Köpfe hängen. Sie hatten das unvorstellbar riesige Loch, das ihr Arbeitsplatz war, noch nie zu Fuß durchquert. Es sah aus wie eine Wüste. Mit großer Anstrengung kletterten sie den steilen Abhang am Rand des Lochs hinauf. Immer wieder rutschten sie ab und wären fast verzweifelt, denn sie konnten das schöne Bauernhaus nicht mehr sehen. Doch als sie es geschafft hatten, erkannten sie einander und lächelten sich gegenseitig ermunternd zu. Mit festem Schritt gingen sie beschwingt weiter. Schon bald konnten sie Einzelheiten des wohl gepflegten Bauernhofes erkennen: Die goldenen Weizenfelder, die hohen Bäume, die das Bauernhaus umringten, die Scheune und die übrigen Gebäude.

„Seht euch das an“, rief einer von ihnen aus, „da ist ein Teich voller Enten!“

Bevor sie sich daran satt gesehen hatten, teilte einer den anderen lautstark mit: „Sie haben auch Hirsche und Rehe hier. Da drüben grasen sie ganz friedlich auf einer Wiese!“

© R.R.P. | R.Recker-Proprenter | Roitzerhof Wege-Hofkreuz

Sie wollten ungeduldig voranschreiten, um weitere Wunder des Bauernhofes zu erkunden, als der dritte Mann, der in der Mitte ging, seine Arme ausbreitete, um die anderen zu stoppen. In der einsetzenden Dämmerung hatten die anderen nicht bemerkt, dass vor ihnen auf dem Weg ein Pfau stand. Er schien die Männer zu beäugen. Dann drehte er sich um und öffnete seinen majestätischen Fächer.

Angesichts dieser Schönheit des ganzen Bauernhofes, des Pfaus, des Dammwilds, des Waldes, brachten die Baggerführer es natürlich nicht übers Herz diesen wunderschönen Bauernhof zu vernichten. Sie redeten mit ihren Chefs und gemeinsam zerstörten sie stattdessen die großen Schaufelradbagger.

Wie, ihr glaubt mir nicht? Dann kommt selbst einmal in die vom Tagebau bedrohten Gebiete. Ich zeige euch gleich mehrere solcher schönen Bauernhöfe.

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